Bei der Material Compliance Gesetzgebung steht der Gesetzgeber immer im Spannungsfeld: Zum einen, um die gesellschaftlichen Ziele – den Schutz von Mensch und Umwelt vor schädlichen Substanzen – zu erreichen, zum anderen, um die Produktionsfähigkeit der Industrie zu erhalten. Der Gesetzgeber legt dabei Regeln fest, welche durch die Formulierung des Geltungsbereiches die Betroffenheit der Adressaten beschreiben. In den Regeln sind zumeist Einhaltungsgebote formuliert, die in einigen Fällen Übergangsregelungen oder Ausnahmen enthalten. Der Weg zur Erreichung der Vorgabenkonformität ist allerdings nicht in den Gesetzestexten ausgearbeitet. Dieser wird oftmals in Normen, technischen Regelwerken oder Umsetzungsrichtlinien – dem Stand der Wissenschaft und Technik – beschrieben.   

Je weniger die Gesetzesvorgaben durch derartige Umsetzungsvorgaben konkretisiert werden, desto größer sind die Unsicherheiten bei den Adressaten (Betroffenen) der Gesetzgebung sowie bei den Vollzugsbehörden. Der Stand der Technik ist damit die Messlatte, an der im Haftungsfall gemessen wird, ob ein Verstoß schuldhaft war oder nicht. Insbesondere schuldhaft handelt der, der fahrlässig, grob fahrlässig, oder sogar vorsätzlich handelt oder, wer im Unternehmen die entsprechenden Ressourcen und Prozesse zur regelwerkskonformen Umsetzung nicht vorhält. Liegt ein schuldhaftes Verhalten vor, drohen neben einem Ordnungswidrigkeits-/Strafverfahren auch zivilrechtliche Klagen und Rückrufanordnungen. Die Konsequenzen hieraus sind neben den Kosten häufig auch Kunden- und Imageverlust. Der Stand der Wissenschaft und Technik formuliert sich hierbei wie folgt:

Stand der Technik bedeutet von Fachleuten verfügbares Wissen, das Regeln enthält, die:

  • wissenschaftlich begründet
  • praktisch erprobt
  • ausreichend bewährt sind.

Stand der Wissenschaft meint den aktuellen Forschungsstand in einem Fachgebiet. Das Fachwissen ist dabei:

  • wissenschaftlich begründet
  • technisch als durchführbar erwiesen
  • ohne praktische Erprobung
  • ohne ausreichende Bewährung

Die IEC 63000 als Stand der Technik zur Umsetzung der Material Compliance

Spiegelt man diesen Sachverhalt an den Vorgaben zur Material Compliance, so ergibt sich folgendes Bild: Die Material Compliance als die Einhaltung der materialspezifischen Vorgaben ist in nationalen und internationalen Regelwerken, wie z. B. in der REACH-Verordnung oder in den unterschiedlichen RoHS-Richtlinien beschrieben. Sucht man die hierzu anzuwendenden Umsetzungsvorgaben – also den Stand der Wissenschaft und Technik – so findet man nur wenig Umsetzungsunterstützung. Der Stand der Technik zur Material Compliance wird heute am besten in der DIN EN IEC 63000 beschrieben. Der Stand der Wissenschaft wird beispielsweise über die Empfehlungen des nationalen ECHA-Helpdesks, der Formulierung des Ausbildungsstandards zum „Material Compliance Beauftragten“ über den TÜV Saarland oder durch Umsetzungsempfehlungen von Branchenverbänden formuliert. Beispielsweise empfiehlt der CIVD (Verband der Caravaning-Industrie) seinen Mitgliedern, ihre Lieferanten rechtsverbindlich über die „CIVD Richtlinie – Material Compliance“ bezüglich der Einhaltung der Material Compliance zu verpflichten. Innerhalb der DIN EN IEC 63000 werden folgende Regeln zur Umsetzung der MC-Vorgaben formuliert:

1. Bestimmung der Vertrauenswürdigkeit des Lieferanten

Die Bestimmung der Vertrauenswürdigkeit des Lieferanten ist ein elementarer Baustein innerhalb der Regelvorgaben zur Umsetzung der Material Compliance. Hier wird festgelegt, dass eine Aussage zur Material Compliance eines Lieferanten erst dann berücksichtigt werden darf, wenn dessen Vertrauenswürdigkeit in diesem Thema festgestellt wurde. Die Vertrauenswürdigkeitsbeurteilung ist umso sinnvoller, da in Zeiten der sich rasant entwickelnden Vorgabensituation und der dadurch notwendigen Themenpriorisierung beim Lieferanten, oftmals von diesem Aussagen getätigt werden, ohne diese vollumfänglich abgesichert zu haben.

2. Vertragliche Vereinbarung mit dem Lieferanten

Prinzipiell müssen die Lieferanten informiert bzw. vertraglich gebunden werden, die das Endprodukt betreffenden Vorgaben im Lieferantenprodukt umzusetzen. Dies betrifft auch die Vorgaben zur Material Compliance. Da diese Vorgaben oft sehr zahlreich sind und unterschiedliche Produktbereiche mehr oder minder stark betreffen, ist hier ein differenziertes Vorgehen zu empfehlen. In der Praxis (Stand der Wissenschaft) hat sich dazu die Festschreibung der Material Compliance Vorgaben in einer „MC-Hausnorm“ bestens bewährt. Diese wird als mitgeltendes Dokument in unterschiedliche vertragsrechtliche Dokumente in Einkauf, Qualität und Entwicklung eingebunden, zum Beispiel Einkaufsbedingungen, Qualitätsvereinbarung, Lastenheft u. a. und ermöglicht so eine weitreichende Information des Lieferanten über die Vorgabensituation.

3. Anfrage der artikelbezogenen Material Compliance beim Lieferanten

Ist der Soll-Stand über die Material Compliance Hausnorm beschrieben, ist es erforderlich, den Ist-Stand der Umsetzung im Endprodukt zu hinterfragen. Als Stand der Wissenschaft (ECHA-Helpdesk) wie auch der Technik (IEC 63000) wird hierbei die artikelspezifische Deklaration (Artikelnummer und Artikelname erforderlich) formuliert. Dies bedeutet, dass für jeden Artikel einzeln oder auch in Gruppen die Einhaltung der Vorgaben vom Lieferanten bestätigt werden muss. Eine Auskunft zur generellen Vorgabenkonformität ist nicht ausreichend.

4. Risikoanalyse für Teile, für die keine Material Compliance Information vorliegt

Sowohl der Gesetzgeber, als auch die IEC 63000, haben erkannt, dass es nicht immer möglich ist, alle Lieferanteninformationen zur Absicherung der Material Compliance zu bekommen. Aus diesem Grund ist es geregelt, dass fehlende Informationen insoweit akzeptiert werden können, als das Lieferantenteil nicht als ein Risikoteil im Sinne der Material Compliance betrachtet wird. Zu beachten ist allerdings, dass so zu diesem Artikel keine rechtsbelastbare Auskunft vorliegt. Ein hierzu formulierter Stand der Technik liegt nicht vor, lediglich in der Formulierung des Stands der Wissenschaft werden Umsetzungsunterstützungen angeboten.

5. Absicherung von Risikoteilen über Analytik

Eruiert man innerhalb der Risikoanalyse Bauteile, welche ein hohes Risiko ausweisen, dass reglementierte oder verbotenen Substanzen darin enthalten sein könnten, so muss das Vorhandensein derselben über eine chemische Analyse ausgeschlossen werden.

In Summe betrachtet gibt es zwar wenige, dafür aber recht detaillierte Regeln in Kombination mit Fachwissen, welche den Stand der Wissenschaft und Technik der Material Compliance beschreiben, allen voran die IEC 63000. Eine Umsetzung unter diesem Niveau kann schnell zu Fahrlässigkeit und wie gezeigt zu weitreichenden Haftungs- und Kostenrisiken führen.